Die Archive von Suhrkamp und Insel, die mit einem Umfang von mehr als 10.000 Archivkästen die bisher üblichen Größenordnungen quantitativ wie qualitativ überschreiten, fordern einen Forschungshorizont jenseits dokumentarischer Bestandsabbildung und einer Verlagsgeschichtsschreibung im buch- und unternehmensgeschichtlichen Sinne. Zusammen mit der Fülle der Bestände des Deutschen Literaturarchivs Marbach lässt sich das Archiv als eine reichhaltige Quelle für die Forschungsgegenwart begreifen.

Bei der Erforschung des Siegfried Unseld Archivs konnte es weder das Ziel sein, allein das Erbe der Buchwissenschaften und der Editionsphilologie fortzuschreiben, noch den Bestand vor dem Hintergrund einer „Master-Theorie“ zu erklären. Vielmehr galt es, vor einem gemeinsamen Problemhorizont, in den einzelnen Modulen gegenstandsadäquate Verhandlungsbedingungen herzustellen. Dabei mitzudenken war, dass zentrale Methoden und Verfahren, die die Geistes- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren geprägt haben, innerhalb des Suhrkamp-Programms nicht nur ihren Publikationsort gefunden haben, sondern ohne die intellektuellen Koordinaten von Suhrkamp nicht zu denken sind. Standort und Durchsetzung der Verfahren sind in die Reflexion einzubeziehen.

Der gemeinsame Reflexionshorizont eröffnete die Möglichkeit zur experimentellen Zusammenführung von Theorie, Archivbestand, Ausstellungen und Zeitzeugenbefragungen. Im Sinne eines Forschungslabors gab das Kolleg den unplanbaren Entdeckungen Raum. Der Laborbegriff betonte dabei den Experimentcharakter der Situation, der sich aus der Parallelführung von Forschungs- und Erschließungsprozess ergibt.

Mit der Anknüpfung an aktuelle Studien aus dem Bereich der Labortheorie wurde eine systematische Absicht verfolgt: Was sind die epistemischen Dinge, die sich im Prozess der literatur- und intellektuellengeschichtlichen Forschung identifizieren lassen? Wie ist die spezifische Situation der Forschung im Archiv zu begreifen?

Unter Rückgriff auf neuere Konzepte aus der intellectual history, der Labortheorie sowie den material studies wurde ein Reflexionshorizont abgesteckt werden, der es ermöglichte, das ‚Phänomen Suhrkamp‘ aus dem Archivmaterial heraus zu erforschen. Die einzelnen Ansätze bildeten dabei theoretische Frames, die die Chance boten, den Blick auf Zusammenhänge und Prozesse zu richten, die sich erst aus der Konfrontation mit dem Material ergeben. Im Mittelpunkt der einzelnen Projekte standen Rekonstruktionsvorgänge, Formen der Gegenstandskonstituierung und des Erkenntnisgewinns, nicht der Abbildung von Ereignisdokumentationen.

Wie lässt sich die Erfindung des intellektuellen und literarischen Raums der Bundesrepublik aus dem Siegfried Unseld Archiv beschreiben? Liegt eine Meistererzählung im Zentrum, in der von Siegfried Unseld verfassten Verlagschronik – oder muss es darum gehen, die Peripherie zu kartieren, die Netzwerke, die literarischen Soziogramme? Ist eine Verlagsgeschichte als Bewusstseinsgeschichte in den politischen Kraftfeldern des Kalten Krieges, in deutsch-deutschen Verlagsgeschichten zu lokalisieren? Oder in den urbanen Symbiosen der Verlagsstadt?

Wie verläuft die verlegerische, ästhetische und intellektuelle Entwicklung? Wie agiert Suhrkamp im Spannungsgefüge von Ost und West, im westdeutschen Konkurrenzverhältnis hauptsächlich zu S. Fischer und Rowohlt? Welche Rolle spielen die Verlage Suhrkamp und Insel im internationalen literarischen Austausch, welche Funktion nehmen sie bei der Vermittlung deutschsprachiger Literatur im Ausland ein? Welche ökonomische und kulturelle Bedeutung kommt einzelnen Segmenten wie dem Theaterverlag und dem Jüdischen Verlag zu?

Welche Veränderungen und Entwicklungen im Buchmarkt und in der verlegerischen Ökonomie lassen sich aus dem Archivmaterial ablesen? Wie arbeiten Insel und Suhrkamp an der Kanonisierung und der Durchsetzung von Klassikern, welche mediale und kulturpraktische Rolle spielt die Erfindung des hochwertigen Taschenbuchs? Welchen Anteil hat Suhrkamp am Ausbau der Literatur als Performance, an der Autor- und Werkpolitik, am Aufbau des Lesungsbetriebs in den vergangenen fünfzig Jahren?

Welcher Stellenwert kommt der Überlieferung von Textstufen und unpublizierten Manuskripten in den Verlagsarchiven zu? Wo lassen sich verlagshistorische Befunde und ideengeschichtliche Rekonstruktionen verknüpfen? Verlangt der Bestand angesichts der Quantitäten nach Verfahren des „distant reading“ – oder kann nur ein enges Gefüge aus begrenzten Detailstudien der Überlieferungsdichte gerecht werden?

Vor diesem Reflexionshintergrund wurden im Rahmen des Suhrkamp-Forschungskollegs in insgesamt sechs Forschungsmodulen zentrale Bestandssegemente des Siegfried Unseld Archivs in den Blick genommen.

Forschungsmodul I:

Kanonbildung und Werkpolitik

Leitung: Prof. Dr. Steffen Martus,
Humboldt-Universität zu Berlin, Neuere deutsche Literatur

Nach einer langen Zeit der kritischen bis aversiven Behandlung der Kategorien von ‚Autor‘ und ‚Werk‘ in der Literaturwissenschaft wurde in den vergangenen Jahren zunehmend die Frage nach deren Funktion für die Interpretationstheorie und -praxis sowie für die Literaturgeschichte und die Literaturgeschichtsschreibung gestellt. Deutlich wurde dabei vor allem, dass die kommunikative, mediale und textuelle Vielgestalt des Werks und seine Einheit einander nicht zwingend ausschließen, sondern sich oft genug wechselseitig bedingen.

Diese Zusammenhänge werden gerade in Bezug auf die verlegerische Seite der Produktions- und Werkästhetik als Werkpolitik sichtbar. So haben im Suhrkamp Verlag sowohl Peter Suhrkamp als auch Siegfried Unseld etwa die Einzelwerke von Autoren immer wieder prospektiv im Blick auf ein mögliches Gesamtwerk hin gefördert oder retrospektiv dafür gesorgt, dass Autoren als Schöpfer eines Gesamtwerks erscheinen. Wie aber entsteht die ‚Gesamtphysiognomie‘ eines Autors? Wie verhalten sich Einzel- und Gesamtwerk zueinander und zu den diversen Reihen, in denen sie im Verlagsprogramm erscheinen? Wer schreibt, streicht, lektoriert, redigiert, vertreibt, wirbt und verdient mit am Werk und an jener Figur, die als Autor für die Aufmerksamkeitsökonomie im Literaturbetrieb von zentraler Bedeutung ist? Kurz: Welche Funktion haben Autor und Werk für den Verlag – und wie konstituiert sich dabei Literaturgeschichte?

Werkpolitisch interessant sind vor allem die vielfältigen Verflechtungen, Abhängigkeiten und Koalitionen, das Produktions- und Rezeptionskollektiv ‚Verlag‘. Autoren wie etwa Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Uwe Johnson oder Martin Walser, werden aufgebaut und gefördert und dienen als ‚Antennen‘ für neue Autoren, literarische Tendenzen und Trends. Hier gilt es Literaturgeschichte als Verlagsgeschichte und damit als Teil einer Literaturbetriebskunde zu fassen und die Netzwerke zu analysieren, die Autoren und Werke profilieren, ‚bestärken‘ und ins literarische Leben bringen.

Der Umgang mit „Klassikern“ und die Verfahren der Kanonisierung in den Verlagen Insel und Suhrkamp sind aus dieser Perspektive werkpolitisch relevant, auch im Blick auf aktuelle Entwicklungen. Die archivalische Rekonstruktion der Strategien, mit denen der Verlag auf die sich verändernden Bindungskräfte kultureller Angebote und bildungsbürgerlicher Selbstverpflichtung reagiert, versprechen exemplarische Ergebnisse für die Bedingungen, unter denen Literaturgeschichte nach 1945 im Allgemeinen sowie Werkpolitiken im Besonderen stehen. Kann hier bereits das Suhrkamp-Design als Kompromiss zwischen bildungsbürgerlichem Anspruch und der Forderung nach Erlebnisqualität, wie sie seit den 1960er Jahren zunehmend wichtiger wurde, gesehen werden?

Es gehört zu den vielen instruktiven Widersprüchen des Suhrkamp-Programms, dass ein Verlag, der sich so sehr der Pflege von Autoren und deren (Gesamt-)Werk verschreibt, selbst die Leitformeln für die Infragestellung eines emphatischen Begriffs von Autor und Werk ins Spiel bringt (mit den einschlägigen Beiträgen z.B. Umberto Ecos, Jacques Derridas, Paul de Mans, Michel Foucaults, Roland Barthes’ oder Pierre Bourdieus). Die eigentümlichen Rückkoppelungsschleifen zwischen Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturbetrieb gehören zu den vielversprechenden Untersuchungsbereichen werkpolitischer Analysen der Archive von Suhrkamp und Insel.

Forschungsmodul II:

Theorie-Konjunkturen

Leitung: Prof. Dr. Bernd Stiegler,
Universität Konstanz, Neuere deutsche Literatur und Medienwissenschaften

Strukturalismus, Poststrukturalismus, Diskurstheorie, Systemtheorie – seit Mitte der 1960er Jahre werden die Humanities auf beiden Seiten des Atlantiks von einer Theorieeuphorie erfasst, deren historische Rekonstruktion in den vergangenen Jahren begonnen hat. Das vorschnell ausgerufene ‚Ende der Theorie‘ ist einem reflektierten Umgang mit dem Theoriebegriff und seinen historischen Indizes gewichen. Die Wahrnehmung des Suhrkamp Verlags im In- und Ausland ist stark durch das Theorieprogramm bestimmt, das beansprucht, Diskurse nicht nur zu begleiten, sondern zu gründen, Denkstile nicht nur zu verfolgen, sondern zu prägen.

Die Reihen Theorie I und II sowie das Segment stw prägte die intellektuelle Sozialisation von Studierendengenerationen. Mit Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Hans Blumenberg, Jacob Taubes und später Niklas Luhmann stehen dem Verlag in kontroverser Konstellation wirkungsmächtige Berater und Vermittler zur Seite. Die Überlieferung der Akten zu den Theoriereihen und zum Bereich stw im Archiv erlaubt die erstmalige Rekonstruktion eines zentralen Kapitels deutscher Wissenschaftsgeschichte im internationalen Kontext.

Welche Theoriebegriffe lassen sich ausmachen? Unter welchen institutionellen, diskursiven und habituellen Bedingungen bahnt sich die Theoriekonjunktur an? Lässt sich der Erfolg des lancierten Theorieprogramms auf starke Kerndisziplinen oder auf interdisziplinäre Resonanzfähigkeit zurückführen? In welchem Verhältnis stehen die Anfänge von Suhrkamp als Wissenschaftsverlag zur Studentenrevolte von 1968, welche Wechselbeziehungen zur größten systematischen Bildungsexpansion der deutschen Nachkriegsgeschichte lassen sich nachzeichnen?

In welcher Weise ist die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik durch die Frankfurter Schule mit der folgenden Orientierung an französischen, amerikanischen und russischen Theoretikern verknüpft? Wie positioniert sich Suhrkamp gegenüber anderen Akteuren, etwa dem als Kollektiv gegründeten Merve Verlag? Welche Rolle spielen Zentren der Universitätsreformen, darunter Konstanz und Bielefeld? In welcher Weise stellt der Verlag in einer dezentral organisierten Wissenschaftslandschaft diskursive Verdichtung, Referenzsemantiken und Qualitätssicherungsmechanismen bereit?

Im Deutschen Literaturarchiv Marbach, das neben den entsprechenden Akten des Suhrkamp-Archivs auch das Redaktionsarchiv der Theoriezeitschrift alternative, ebenso die Nachlässe von Peter Szondi, Hans Blumenberg und Wolfgang Iser für die Forschung bereithält, bestehen die Ausgangsbedingungen für eine konzentrierte Untersuchung der Frühzeit geisteswissenschaftlicher Theoriebildung in der Bundesrepublik. Anhand der detailliert überlieferten Korrespondenzen, editorischen Notizen, Gestaltungsentwürfe, auch der betriebswirtschaftlichen Dokumentationen lässt sich nicht allein die Genese der Theorieeuphorie in den Geistes- und Sozialwissenschaften nachzeichnen. Erfasst werden soll auch, wie sich das Deutungsangebot für eine solche wissenschaftshistorische Rekonstruktion, das von zentralen Suhrkamp-Theorieautoren wie Michel Foucault und Niklas Luhmann bereitgestellt wird, aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive objektivieren lässt.

Forschungsmodul III:

„Suhrkamp-Kultur“ als Kulturkritik?

Leitung: Prof. Dr. Dorothee Kimmich,
Universität Tübingen, Neuere deutsche Literatur

Spätestens seit George Steiners Evokation einer „Suhrkamp-Kultur“ im Times Literary Supplement des Jahres 1973 steht der Name Suhrkamp für eine bestimmte Form der Kultur- und Gesellschaftskritik, als deren Rückgrat die Kritische Theorie der Frankfurter Schule gelten mag. Auch der Verlag selbst stilisiert sich wiederholt zum Träger einer Kulturkritik; besonders deutlich wird dieser Anspruch in Bezug auf die edition suhrkamp formuliert, deren erste Bände 1963 erscheinen und deren explizites Anliegen es ist, „die Gegenwart kritisch zu befragen“.

Doch wie lässt sich das konkret fassen? Welchen Typus und welche Facetten von Kulturkritik bietet die Suhrkamp-Kultur? Welche historischen und aktuellen Referenzen, welche theoretischen Instrumente, welche argumentativen Muster lassen sich identifizieren? Die Bestände im Archiv versprechen einen Zugang zum Labor einer ideen-, theorie- und mentalitätsgeschichtlich bedeutenden Wissensverarbeitung und -produktion, die gleichzeitig selbst das Instrumentarium einer Gesellschafts- und Kulturkritik zur Verfügung stellt. Das Material ermöglicht einen Blick in die Geschichte der Produktions- und Aushandlungsstätte öffentlicher Diskursivität ebenso wie in ein zentrales Kapitel bundesrepublikanischer Theoriegeschichte.

Wie interagiert der Verlag mit den sich formierenden und transformierenden Geistes- und Sozialwissenschaften zu einer Zeit, in der diese selbst starken Expansions- und Differenzierungsprozessen unterworfen sind? Wie erfolgt die Besetzung neuer akademischer Felder, auf die die Programmsteuerung reagiert, und in welcher Weise verändert sich dabei der Kritikbegriff?

Welche Haltungen und Denkmuster setzen sich in der Verlagspolitik durch? Wie lässt sich das Nebeneinander von unterschiedlichen Autoren und Theorieschulen – parallel zu Werken der Kritischen Theorie werden beispielsweise Texte des französischen Poststrukturalismus und der Systemtheorie veröffentlicht – erklären? Hier können Entwicklungen und Konstellationen aufgedeckt werden, die sich allein anhand der publizierten Texte nicht nachvollziehen lassen.

Zahlreiche zeitgleiche und konkurrierende Schulen im Bereich der Wissenschaftstheorie fanden keinen Platz im Programm. Auch alternative Optionen etwa aus den Bereichen des Neomarxismus oder der diversen Schulen der Linguistik erschienen nicht vorzugsweise bei Suhrkamp. Inwiefern erweist sich der Ausschluss von intellektuellen Tendenzen und philosophischen Konzepte, die nicht bei Suhrkamp verlegt wurden, als profilrelevant?

Das Verlagsprogramm und die ihm zugrundeliegenden Absichten und Verhandlungen müssen nach Anknüpfungen im diachronen wie im synchronen Sinne befragt werden. Welche Theorietraditionen werden fortgeführt, welche Autoren und Schulen der Vorkriegszeit werden aufgenommen? Welche Rolle spielt die Wiederaufnahme und programmatische Weiterführung der gerade durch jüdische Intellektuelle geprägten Moderne? Und welche Anschlussmöglichkeiten an die europäische und amerikanische Diskussion ergeben sich daraus? Auf Grundlage der Korrespondenzen, Notizen und Gesprächsprotokolle im Archiv lassen sich Genealogien der einzelnen Werke im Kontext des intellektuellen Klimas der Bundesrepublik erstellen.

Über den verlagsgeschichtlichen Zusammenhang hinaus kann das Modul einen Beitrag zur Erforschung von Modernekonzepten und deren Transformation nach dem Zweiten Weltkrieg leisten.

Forschungsmodul IV:

Mentorship: der Autor und sein Lektor

Leitung: Prof. Dr. Sandra Richter,
Universität Stuttgart, Neuere deutsche Literatur

Sind die literarischen Errungenschaften Thomas Bernhards oder Peter Handkes denkbar ohne Siegfried Unseld, der von sich gesagt hat, er wolle nicht ‚Bücher, sondern Autoren‘ verlegen? Ohne Lektoren, die an der Textgenese, nicht bloß an der Drucklegung beteiligt sind? Schon Max Frischs erstes Suhrkamp-Buch, das Tagebuch 1946-1949, entsteht in intensivem Austausch mit Peter Suhrkamp. Wie ein Blick in den Briefwechsel und die Textstufen verrät, greift der Autor die zahlreichen inhaltlichen und strukturellen Anregungen und Kritikpunkte seines Verlegers in vielen Fällen auf und lässt sie in sein Werk eingehen.

Autorschaftsdebatten haben die poetische Rolle und Funktion des Mentors, der seit Fénelon selbst eine literaturfähige Figur ist, vernachlässigt. Welche veränderte Perspektive auf inventive Prozesse ergibt sich, wenn man sie aus dem kritischen Dialog von Verleger und Autor, Lektor und Autor begreift? Welche poetischen Problemstellungen macht die textbegleitende Korrespondenz sichtbar? Welche Abhängigkeiten, Einflussnahmen und Auseinandersetzungen können rekonstruiert werden? Mit welchen Instrumenten lassen sich literarische Mentorverhältnisse beschreiben? Welche Förderstrategien lassen sich erkennen? Inwiefern setzen sie Kreativität frei, inwieweit blockieren sie sie?

Wesentliche Erkenntnisse haben literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Schreibprozessen unter asymmetrischen Bedingungen, zu charismatischen und imitativen Strukturen erbracht. Wie gestaltet sich die jeweils individuelle Betreuungssituation, welchen Effekt hat die Bindung zwischen Autor und Lektor in der literarischen Produktion? Die Frage nach Mentorbeziehungen, die der Suhrkamp Verlag exemplarisch ausgeprägt hat, ist nicht allein eine Angelegenheit des Literaturbetriebs; interessant sind vielmehr die poetischen Implikationen. Hat die critique génétique die Aufmerksamkeit der philologischen Forschung vom Endprodukt auf dessen Entstehung umgelenkt, so ermöglichen Verleger- und Lektoratskorrespondenz, Skizzen, Entwürfe, Werkstufen und Notizen, wie sie im Suhrkamp Archiv in reichem Maß zu finden sind, einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen der literarischen Produktion.

Gerade in Bezug auf den dezidiert literarischen Anspruch des Suhrkamp Verlags wird der Blick über spezifische Marktmechanismen und Strategien der Durchsetzung eines Werkes im literarischen Feld hinaus geöffnet und die Frage danach gestellt, wie die Generierung und Sicherung literarischer Qualität funktioniert.

Forschungsmodul V:

Suhrkamps globale Beziehungen (Kooptation)

Leitung: Prof. Dr. Gesine Müller, Emmy-Noether-Nachwuchsgruppenleiterin,
Romanistik, Universität Potsdam (jetzt: Universität Köln)

Suhrkamp lässt sich nicht allein auf die Literaturgeschichte der Bundesrepublik reduzieren. Vielmehr holt der Verlag die Weltliteratur in den deutschsprachigen Horizont und präsentiert umgekehrt deutschsprachige Autoren auf der internationalen Bühne. Als zentraler Protagonist in der Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Deutschland – mit Julio Cortázar, Juan Carlos Onetti und dem mexikanischen Nobelpreisträger Octavio Paz hat der Verlag gleich drei Jahrhundertautoren im Programm, die auch in der deutschen Gegenwartsliteratur deutlich erkennbare Spuren hinterlassen haben, – und mit wichtigen Autoren aus dem europäischen Ausland (Roland Barthes, Samuel Beckett, Marguerite Duras, T.S. Eliot, Michel Foucault, Zbigniew Herbert, James Joyce, Stanislaw Lem, Cees Nooteboom, Amos Oz) spielt Suhrkamp im internationalen Gefüge eine zentrale Rolle, die es aufgrund des Bestandes näher zu fassen gilt.

Wie verläuft der Prozess der Vermittlung und Aneignung, der Entdeckung und Partizipation? Welche Strategien stehen bei der Durchsetzung und Aufnahme im Vordergrund? Wie werden deutsche Autoren international vermarktet? Und welche Rolle spielen dabei Kontakt- und Beraternetzwerke?

Hierbei werden vor allem zwei Entwicklungen im Mittelpunkt stehen, für die das umfangreiche Archivmaterial neue Einsichten zu geben verspricht. Zum einen ist dies die Frage nach der führenden Rolle des Verlags bei der Rezeption und Kanonisierung lateinamerikanischer Literatur. Welchen Einfluss hatte die verspätete deutsche Rezeption der Autoren des sogenannten Booms der lateinamerikanischen Literatur der 1960er Jahre wie García Marquez, Vargas Llosa, Fuentes und Cortázar auf die Literaturproduktion? Welche Strategien und Verfahren der Kanonisierung und Werkpolitik sind auf der internationalen Bühne relevant?

Auffällig ist zum anderen – besonders im Gegensatz zur marktstrategisch geschickten Positionierung im Bereich der lateinamerikanischen Literatur – die Schwäche des Suhrkamp Verlags in Bezug auf die US-amerikanische Literatur. Bei der Vermittlung nordamerikanischer Literatur bleibt Suhrkamp, trotz nachweislicher Bemühungen, außen vor und überlässt Verlagen wie beispielsweise Rowohlt das Feld. Lassen sich hierfür marktstrategische Erklärungen finden? Oder sind die Antworten in personalen Konstellationen und (fehlenden) Netzwerken zu suchen?

Die Frage nach Suhrkamp im weltliterarischen Rahmen steht im Mittelpunkt des Forschungsmoduls, das in Form der Kooptation an das Suhrkamp-Forschungskolleg anschließt.

Forschungsmodul VI:

Literarische und intellektuelle Öffentlichkeit in der Bundesrepublik: Der Theaterverlag

Schon bei der Gründung des Suhrkamp Verlags waren der Vertrieb von Bühnentexten und die Zusammenarbeit mit Dramatikern und Hörspielautoren von entscheidender Bedeutung. Das hing nicht nur damit zusammen, dass Peter Suhrkamp selbst Dramaturg und Theaterkritiker war, bevor er den Beruf des Verlegers ergriff, es lag auch daran, dass das Dokumentar- und Sprechtheater für den öffentlichen Diskurs zwischen 1945 und ca. 1975 in beiden deutschen Staaten eine zentrale Funktion hatte.

Dies machte es für den Verlag schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit selbstverständlich, sich für national und international führende Bühnenautoren wie George Bernhard Shaw oder T. S. Eliot zu engagieren. Darüber hinaus wurde diese Arbeit mit der Betreuung der Werke von Bertolt Brecht, Max Frisch und vielen anderen schnell zu einem wichtigen ökonomischen Faktor. Im Laufe der 1960er Jahre entstand daraus eine weitgehend selbständige Abteilung, deren Arbeit im Siegfried Unseld Archiv in fast 800 Archivkästen breit und auf vielfältige Weise dokumentiert ist. Das Material deckt einen Untersuchungszeitraum von 1945 bis 2002 ab.

Auf der Grundlage der Archivalien des Suhrkamp Theaterverlags bietet sich die Möglichkeit, den Verlag als Agenten im Spannungsfeld einer medialen, intellektuellen und kulturellen Öffentlichkeit zu untersuchen, in der dem Theaterbetrieb eine zentrale Rolle zukam. Die zahlreichen Korrespondenzen zwischen dem Verlag und den Autoren, den Bühnen und Regisseuren ermöglichen Einblicke in ein Netzwerk, das für die Debatten der Bundesrepublik prägend war.

Politische Streitfragen und gesellschaftliche Dissonanzen wurden im Medium des Theaters verhandelt, Theaterautoren erlangten mit ihren Stücken internationale Aufmerksamkeit. Wie ist der Verlag beispielsweise im Falle von Peter Handkes Stück Kaspar, das im Mai 1968 in einer Inszenierung von Claus Peymann uraufgeführt wurde, im Spannungsfeld von Text, Autor, Regisseur und medialer Öffentlichkeit positioniert? Welchen Anteil hat Suhrkamp am Erfolg von Peter Weiss’ Marat-Stück, das von Peter Brook in London inszeniert wird und dann auch in New York ein Erfolg wird? Und welchen Einfluss haben die Spectaculum-Bände für die Durchsetzung des Gegenwartstheaters und die Rezeption von zwei, wenn nicht drei Generationen von Dramatikern – von Bertolt Brecht und Max Frisch, über Peter Handke, Thomas Bernhard, Tankred Dorst bis hin zu Marlene Streeruwitz und Rainald Goetz?

Die umfangreichen Materialien – zahlreiche Korrespondenzen, von Dramatikern, Lektoren und Regisseuren, bearbeitete Bühnenmanuskripte sowie eine Vielzahl von Notizen, Honorarabrechnungen, Werbematerialien und Fotografien – dokumentieren ein Kapitel deutsch-deutscher wie internationaler Theatergeschichte, das bisher kaum erforscht ist. Gerade die Verflechtung von Theater- und Literaturbetrieb in die öffentlichen Debatten der Bundesrepublik sind bisher kaum Gegenstand der Forschung.

Der Bestand soll dabei nicht als Ausgangspunkt für eine bestandserschließende und -umfassende Geschichte des Theaterverlags dienen; vielmehr soll das Material, verbunden mit den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Indikator für eine literatur- und intellektuellengeschichtlich relevante Einzelfallstudie sein. Die Bestände sollen mit Bezug auf die Gegenwart befragt und dazu genutzt werden, den Forschungshorizont im Rahmen eines Dissertationsprojektes fallbezogen zu vermessen.

Über den Bestand des Siegfried Unseld Archivs hinaus finden sich in den Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs die Privatarchive wichtiger Autoren des Theaterverlags wie Peter Handke, Martin Walser, Tankred Dorst, Gerlind Reinshagen oder Heinar Kipphardt. Die Sammlung der Mediendokumentation, die neben Rezensionen auch zahlreiche Theaterprogramme, Rundfunkaufnahmen und -manuskripte bereitstellt, ermöglicht es gemeinsam mit dem Suhrkamp Pressearchiv, den Verlag als Reflexionsmedium einer sich verändernden intellektuellen Öffentlichkeit zu erforschen.

Octavio Paz in Deutschland. Verlagsprospekt anlässlich seines Deutschlandbesuchs im Juni 1980.

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